Leitkultur


Ein kurzer Diskurs

Leitkultur – von Bassam Tibi in den 90er Jahren in die politische Auseinandersetzung eingeführt – stellt einen Gegenbegriff zum Multikulturalismus – in den 90er Jahren vor allem von Politikern der Grünen in Deutschland in die politische Diskussion eingebracht – dar. In der politischen Auseinandersetzung geht es um einen Diskurs zwischen den Vertretern eines Kulturverständnisses, das die Bedeutung kultureller Identität betont und Verfechtern einer pluralistischen Kulturauffassung, die auf kulturelle Komplexität setzt. Erstere favorisieren ein Nebeneinander von Kulturen, die an Nationen, Staaten oder Regionen gebunden sind, Letztere eine Durchmischung innerhalb eines Staats, einer Gesellschaft existierender, sein eigenes Wertesystem pflegender Subkulturen. Demgemäß verlangt ein auf Einheitlichkeit setzendes Kulturverständnis, welches Kultur als ein System gemeinsamer Sprache, gemeinsamer Wissensordnungen, gemeinsamer Erinnerungen und eines gemeinsamen Vorrats an Erfahrungen, Deutungen, Werten und verabredeter Regeln ansieht, so etwas wie Unterordnung, wenn man da leben will, wo eine solche Kultur schon etabliert ist. Da, wo sie kulturellen Eigenarten und spezifischen Lebensformen Platz einräumt, bleibt sie in grundsätzlichen Fragen bestimmend, d.h. „leitend“. Partizipation an ihr ist ohne Assimilation an sie nicht zu haben. Als „europäische Leitkultur“ ist sie zwischenzeitlich eine Begrifflichkeit und in das Grundsatzprogramm der CSU aufgenommen. Dem CSU-Politiker Alexander Dobrindt zufolge ist sie Ausdruck des Christentums „mit seinen jüdischen Wurzeln, geprägt von Antike, Humanismus und Aufklärung“ (Bayernkurier vom 14.10.2010).
Der Begriff der „Europäischen Leitkultur“ basiert seinen Begründern zufolge insbesondere auf der Präferierung der Vernunft vor dem, was religiöser Glaube offenbart, auf dem Primat der Säkularisierung, d.h. der Trennung von Staat und Religion, auf Meinungsvielfalt und Toleranz. Der Begriff der „Deutschen Leitkultur“ – im Wesentlichen von dem CDU Politiker Friedrich Merz in die politische Diskussion eingebracht – beinhaltet auch die Forderung nach einem Integrationsbeitrag, den Zuwanderer zu leisten hätten und der beinhaltet, dass sie sich den gewachsenen kulturellen Gegebenheiten in Deutschland annähern müssten.
Vertreter des „Multikulturalismus“, für den es eigentlich kein allgemein anerkanntes funktionierendes Beispiel gibt, setzen auf die Annahme konfliktfreien Auflebens verschiedener kultureller Bezugnahmen durch ein und dieselbe Person oder ein und dasselbe Kollektiv. Funktionieren sollen demnach auch noch Gesellschaften, in denen Gruppen mit einem einheitlichen kulturellen Hintergrund mit Gruppen eines anderen kulturellen Hintergrunds quasi auf „Augenhöhe“ zusammenleben. Dem Dilemma nicht kontrollierbarer kultureller Vielfalt wird durch die Begrifflichkeit „Integration“ versucht entgegenzuwirken. Bei aller Unklarheit dieser Begrifflichkeit besteht heute wohl weitgehend Konsens darüber, dass mit ihr so etwas wie die Einfügung von Menschen bestimmter kultureller Zugehörigkeit in eine Gesellschaft mit anderer Kultur gemeint ist. Im Gegensatz zur Assimilation soll bei der Integration der Eigenheiten in den Lebenseinstellungen der zu Integrierenden so weit Platz eingeräumt werden, wie sie die Ordnung der aufnehmenden Gesellschaft nicht in Frage stellen. Dabei bleibt unklar, wie weit die Veränderungszumutungen die aufnehmende Gesellschaft und die Zuwanderer bei der Integration reichen dürften, d.h. bis wohin die Bereitschaft zur Akzeptanz gegenseitiger Beeinträchtigungen bei der lebensweltlichen Teilhabe strapaziert werden darf. Unter welchen Voraussetzungen entsteht im weiteren Verlauf ein Empfinden von Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit? Nach Max Weber, dem bis heute hier niemand widersprochen hat, entsteht Gemeinsamkeit „nur Kraft der Pflege der Eigenart zu bewahrender und zu entwickelnder Kulturgüter“. Als solche gelten die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Nation, die Erfahrung einer gemeinsamen Geschichte, eines sich im Grundgesetz und der Verfassung wiederspiegelnde gemeinsame Werteordnung, einer in gemeinsamen Erzählungen verdichtete Vergangenheit und nicht zuletzt die kalendarische Ordnung, der christliche Glaube und die miteinander entwickelten Visionen einer zukünftigen Gesellschaft und Weltordnung.
Dies alles gilt es zu berücksichtigen, wenn über Kultur und das, was in ihr leitend ist, wenn über Zuwanderung und Integration sowie das gesprochen wird, dabei machbar und begrenzend ist. Beachtenswert ist dabei, dass insbesondere Staaten wie Frankreich, England, Holland, die Schweiz und Ungarn, die über einen historisch großen Erfahrungsschatz in Sachen Zuwanderung verfügen, sich gegenwärtig sehr zurückhaltend bei der Aufnahme von Flüchtlingen geben. Insbesondere Frankreich und England setzen dabei mehr denn je auf ihr Nationalbewusstsein, auf die Verpflichtung ihren eigenen Traditionen gegenüber und auf die Eigenart ihrer Kultur, auf das, was in ihr bestimmend ist. Es ist nicht zu übersehen, das der Begriff „Leitkultur“ in immer mehr europäischen Ländern gegenwärtig so etwas wie eine Renaissance erfährt. Das war in der Vergangenheit immer dann der Fall, wenn das, was in einer Kultur Konsens ist, drohte nicht mehr selbstverständlich zu sein, wenn die einer Gesellschaft abverlangte Teilhabe das Maß vertretbarer damit verbundener Zumutungen an sie überschritt. Jedes System hört auf zu funktionieren, wenn die in ihm wirkenden Inhomogenitäten die Oberhand gewinnen, wenn sich immer mehr gegenseitig ausschließt und nichts mehr bestimmend ist. Um dem gegenzusteuern reichen keine Kompromisse, keine Vereinbarungen, die einen Status quo zementieren. Über das, was die tragenden Pfeiler deutscher Kultur darstellt, kann nicht verhandelt werden. Es ist das, wonach sich jeder zu richten hat, der an ihr teilhaben möchte.

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