Aus Sorge um das, was nicht verhandelbar ist
In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um das Für und Wider einer Begrenzung von Zuwanderung ist es zu einer Renaissance der Begrifflichkeiten „Werte und Wertebewusstsein“ gekommen. Es geht dabei wohl um so etwas wie eine Wiederbesinnung auf das, was allgemein unter sogenannten „höheren bzw. moralischen Werten“ oder auch „sittlichen oder ethischen Werten“ gemeint ist. Unter Werten werden im Allgemeinen Gegenstände, Sachverhalte, Handlungsmuster, Ideen etc. verstanden, die „erstrebenswerte“, „ wünschenswerte“ oder auch „gute“ Eigenschaften aufweisen. Nach Aristoteles sind Werte nicht etwas, was wir der Welt jeweils nur zuschreiben, sondern Eigenschaften, die sich in der Welt langfristig herausgebildet haben, die man dort vorfinden kann. Im Sinne von Kant sind „Werte“ auch nicht etwas, was nur „Privatgültigkeit“ besitzt, sondern was „Allgemeingültigkeit“ beansprucht. Man könnte auch von so etwas wie dem „Menschen“ „Zu- bzw. Abträglichen“ sprechen, von dem eine „Anrufung“ ausgeht, infolge derer man sich zu etwas herausgefordert fühlt. Das, was von solchen Werten ausgeht, was sie hervorrufen, sind sogenannte „normative Veranlassungen“, d. h. Aufforderungen, sich zu etwas zu bekennen; es für geboten zu halten, diverse Dinge zu tun. So wie es dann beim Handeln immer auch um ein Tun im Lichte bestimmter Intentionen und Überzeugungen geht, handelt es sich bei dem, was dieses Handeln erst bedingt, um „Wünschbarkeiten“, die sich innerhalb einer Welt der Natur und der sie Bewohnenden mit einer Geschichte und Tradition herausgebildet haben. Dass das, was als gewünscht erachtet wird, nicht irgendetwas sondern von „moralischer Art“ ist, fußt darauf, es auch als solches wahrzunehmen. Dazu bedarf es des Vermögens, die Eigenschaften, die ihm innerhalb der Lebenswirklichkeit zugeschrieben werden, zu erkennen und eines Verständnisses für Verallgemeinerungen. Das, was man auch als „Werturteilsvermögen“ bezeichnen kann, und was an sich selbst schon von Wert ist, bedarf der Verfügbarkeit allgemeingültiger Regeln, d. h. eines Bekenntnisses zu einem Kanon, eines entsprechenden Vokabulars und routinierter, insbesondere sprachlicher Ausdrucksweisen. Es erfordert eine Lebenswelt mit einem Bewusstsein für Wünschenswertes, für ein Kommunsense über das, was von besonderem Wert ist, worauf es ankommt und Optionen für diverse Situationen. Moralische Autorität zu besitzen – nichts anderes ist Wertebewusstsein – bedeutet, etwas für „geboten Erachtetes“ wahrzunehmen, die Realität der Fakten zu achten und dabei dem Gebot Genüge tuend zu handeln. Dies setzt eine Erziehung voraus, die in das einführt, was man auch den „Raum der Gründe“ nennt, die darüber in den „Raum der Ursachen“ einzuführen vermag und so letztlich den „Raum der Ereignisse“, den Alltag schlechthin, verstehbar macht. Gerechtigkeit, Toleranz und Selbstbestimmung als Beispiele dessen, worum es in bestimmten Situationen und unter bestimmten Bedingungen geht, fordern Handelnde, die erkennen, wann es um diese Eigenschaften geht und was geboten ist zu tun ist. Über solche „Wertbindungen“ zu verfügen, bedingt einen Habitus, der dazu disponiert, Situationen in einer bestimmten Weise zu sehen, sich in einer bestimmten Weise motivieren zu lassen und etwas Bestimmtes zu unternehmen. Die aus den Gewohnheiten des Denkens und Handelns über die Zeit hinweg stattfindende Aneignung der Wirklichkeit ist es, die zu Verbundenheiten mit Eigenschaften obengenannter Art führt und die in staatlichen Kulturen auch normativ Niederschlag finden. Recht stellt nicht zuletzt eine Form der Verankerung von Werten in gesellschaftliche Ordnungen dar, es hat dem steten Ringen um ethische Güter wie auch Selbstbestimmung und Gleichberechtigung vielfach erst zum Erfolg verholfen. Werte anerkennen heißt bereit zu sein, sich nach ihnen zu richten, Orientierungspunkte für sich selbst, den Umgang mit anderen und der Welt zu setzen. Die Achtung der Würde des Menschen, körperlicher Unversehrtheit und Handlungsfreiheit nötigt dem, der sich dafür einsetzt evtl. Sanktionierung in Kauf zu nehmen. Sich Werten verbunden zu fühlen fordert zu Tugendhaftigkeit, zu einer Moral zum Erhalt der „Moral“ heraus. Sie ist wie Wertebewusstsein Bindung an Eigenschaften, an etwas Imperatives, was als Gebot imponiert, was von besonderer Bedeutung ist und deshalb einen hohen Repräsentationsgehalt aufweist. Da, wo die Werte das abbilden, was einer humanen Lebensform wichtig ist, stellen die Tugenden das dar, wie man ihm am besten gerecht werden kann. Ethische Güter, um die es hier geht, erschließen die Moral. Die Tugenden sorgen für ihren Erhalt und dafür, dass das Leben des die Tugend ausübenden Akteurs „gut“ wird. Die Selbstgestaltung der Person im Hinblick auf das Ziel moralischen Handelns ist es, was den Wert der Tugend primär ausmacht. Die Sicherung des Ziels tugendhaften Handels, der Schutz des allgemein für gut oder von Wert Erachteten an sich, obliegt heute vielfach dem Recht, der Anwendung eines Katalogs miteinander verabredeter Pflichten und für Ordnung sorgender Institutionen. So ist es, was die Gleichberechtigung betrifft, heute nicht überall mehr eine Sache der Courage (d. h. des Muts), sie da durchzusetzen, wo sie Gesetz ist. Wohl aber kann es mutig sein und Aufrichtigkeit erfordern, ihr zu diesem Recht da selbst auch zu verhelfen und dabei auch Risiken einzugehen, d. h. Gefahren und Anfeindungen standzuhalten. Da, wo es dann um mehr als eines nur durchsetzungsfähigen Naturells mit vielerlei noch sonst zur Verfügung stehenden Möglichkeiten geht, wo es eines Vermögens Stellung zu beziehen und sich einzumischen bedarf, und wo dies der Überzeugung in der Sache wegen und in Verantwortlichkeit für die Überzeugung selbst geschieht, geht es um Tugend, um etwas, was Rechtsstaatlichkeit nicht einlösen kann. Gemeinsinn, staatliche Autorität, d. h. schlechthin Zivilisiertheit und das, was einem Gemeinwesen Wert gibt, ist nur mit Vorschriften und Regeln sowie mit Subjekten, die diese irgendwie befolgen, nicht zu haben. Stattdessen bedarf es Akteure, die so etwas wie einen Sinn für das haben, was geboten erscheint, nicht aber immer zwingend verlangt ist. Dabei geht es um Einstellung, um etwas was Beständigkeit und Richtung verspricht, was Sinn stiftet und irgendwie gut ist. Anteilnahme und Mitleid sind Tugenden, die Schmerz und Leid überwindbar erscheinen lassen. Rücksicht vermag dem Ausgeliefertsein etwas entgegenzusetzen. Wohlwollen unterminiert den Drang zu Unaufrichtigkeit, zum so tun, als ob. Wertgebundenheit und Tugendhaftigkeit als Form anspruchsvollen Handelns widersprechen dem Diktat der Eigennützigkeit und Zweckrationalität ebenso wie religiösem Dogmatismus und sentimentaler Schwärmerei. Sie stellen an Idealen orientierte Prinzipien, die ihre Wurzeln vornehmlich in der Geschichte des antiken Griechenlands, der jüdisch –christlichen Kultur und der Aufklärung haben, dar. Dabei geht es primär nicht um Wahrheit sondern um das, was gut, was erstrebenswert ist, im Einvernehmen mit dem, was richtig ist, weil es angebracht ist. Güter von ethischem Wert oder Eigenschaften sind Werte und Tugendenden insofern, wie sie mit der Vernunft in Einklang steht, Emotionalität binden, und Stabilität verkörpern. Die Trennung von Staat, Religion, Recht, Wirtschaft, der Schutz der Privatsphäre, die parlamentarische Demokratie, die Pluralität und der Anspruch auf diesseitige Lebenslust sind solche Werte. Im Sinne dieser Werte in Bezug auf das, was wahr ist, das Richtige zu tun, ist Handeln im Sinne tugendhafter Art. Letztlich geht es um einen Konsens zu dem, worauf es ankommt, um Prinzipien, die allgemein als unverhandelbar gelten und ein Bekenntnis zu dem, was als vorbildlich, als bewundernswert im Umgang damit erachtet wird. Wer das, was eine Kultur über lange Zeiträume als für sie bindend und vorbildlich herausexperimentiert hat, wie der Anspruch auf Leben, Würde, das Gebot der Monogamie, die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, das Eigentum, die bestimmte Arbeit und das, was in ihr traditionell als vorzügliches Handeln gilt, multikulturellen Polypragmatismus opfern will, beraubt sie ihrer Ideale. Er macht sie unattraktiv, für die, die sich ihr zugehörig fühlen und die sich für sie einsetzen. Er nimmt der Kultur das, was man Identität nennt und ihre Fähigkeit zur Integration. Bei etwas als gut Erachtetem wie Ehrlichkeit geht es um einen Wert und den Grund seiner Gefragtheit, nämlich der Wahrheit. In aufgeklärten Gesellschaften erschließt sich diese aus der Vernunft, dem was im Diesseits argumentativ belegt oder plausibel ist. Wer darauf verweist, dass er der Wahrheit wegen ehrlich ist, legt die Gründe offen, die ihn dazu bewogen haben, so und nicht anders zu handeln. In einem säkulären Kontext ohne Möglichkeiten der Delegation von Verantwortung an ein göttliches Wesen heißt das, sich auch dem Raum der Ursachen zu öffnen und so letztlich Moralität in den Raum der Ereignisse, dem Alltagsgeschehen einzuführen. Christlich-abendländische Kulturen sind durch die Säkularisierung und Aufklärung Kulturen gerechtfertigten, anderen und einer Gemeinschaft gegenüber verantwortenden Handelns geworden. Wer sich dieser Wahrheit verbunden fühlt, wird, wenn er vorzüglich handeln will, aufrichtig dafür einstehen und dies mit seiner Ehrlichkeit begründen, zu der er sich aufgrund seines Wissens und in Loyalität zur gesellschaftlichen Ordnung verpflichtet sieht. Wer sich zur Achtung anderer und der Gemeinschaft veranlasst sieht, handelt in Erwartung, dass es ihnen gebührt, und sie es wiederum auch anderen und jedem einzelnen gegenüber erwiesen sollten. Achtung gründet auf einem Bekenntnis zur Menschenwürde sowie Respekt vor der Selbstbestimmung und der Unvertretbarkeit einer Person. Vorzügliches Handeln ist erworben. Die Tugend des Mitgefühls bzw. der Anteilnahme bedarf Erfahrungen im Umgang mit Gefühlen anderer in unterschiedlichen Kontexten, eines Verfügens über situationsadäquate Fertigkeiten wie Takt und Etikette, einer Sensibilität für die Gefühle anderer, eines Eindenkens in die voluntativen und affektiven Eigenarten einer Person sowie eines Wissens über ihren Lebenshintergrund und über das, was es in ihm zu beachten und zu akzeptieren gilt. Bei Werten und Tugenden handelt es sich um Eigenschaften, die nicht unbedingt als richtig erachtet aber eben als gut befunden werden. Insofern handelt es sich um nicht empirisch bestimmbare, sondern um normative sowie irreduzible und auf nichts weiter zurückführbare Eigenschaften. Sie leiten sich aus nichts anderem als aus sich selbst ab. Soweit sie normativer Art sind, drücken sie etwas aus, was sein soll, auch dann wenn es nicht ist. Entscheidend ist das Bemühen um sie, die sich im Handeln einer Gemeinschaft, eines Staates oder eines einzelnen ausdrückende Intention. Es sind die sich überwiegend sprachlich, über Regeln, Symbolik, Sitten und Brauchtum vermittelnden Annahmen über die Wirklichkeit, um die es hier geht. Auf der Ebene des Individuellen, d. h. der Tugenden, handelt es sich um Mentales, um etwas, was die Kultivierung physischer Merkmale, d. h. des sich Fithaltens ebenso wie den Umgang mit Dingen, der Natur sowie das sich Kleiden, sich ästhetisieren Lassen und die Art des sich Genuss Verschaffens einschließt. Es ist das, was Vertrauenswürdigkeit mitbeinhaltet. Wertebewusstsein und Tugenden sind fundamentale Bestimmungen einer Person. Man erwirbt sie in einem allmählichen Einüben eines speziellen Handelns, über das man zu jeder Zeit selbst verfügen kann. Das Ergebnis dieses selbstverantworteten Prozesses ist die Grundlage dafür, dass jemandem Wertebewusstsein zugesprochen wird oder er für sein Tun bewundert wird. Aus diesen Gründen erweist sich der Erwerb und der Erhalt von Wertbindungen sowie die Entwicklung eines dementsprechenden Handlungsvermögens als ein allmählicher Prozess der Habitualisierung, d. h. der Herausbildung von Werturteilen und Handlungs-orientierungen. Ein solcher Prozess erfordert „Bildbarkeit“, d. h. einer Bereitschaft, sich ihm unterziehen zu wollen, ein Bewusstsein für das Normative, für das in einer Kultur für wünschenswert Erachtete, und eine Verfasstheit, aus der sich etwas bilden lässt. Darüber hinaus bedarf es eines persönlichen Umfelds und eines gesellschaftlichen Kontextes, in dem das, worauf es ankommt, verstanden, benannt und vorgelebt wird. Eine Gesellschaft, die sich zu etwas verpflichtet sieht, muss deutlich machen, worum es sich dabei handelt, und worum es ihr geht. Bestimmten Werten mit Handlungsoptionen verbunden zu sein bedeutet, sie für sich zur Richtschnur zu machen, sich von ihnen leiten zu lassen, in dem wie man sich selbst, andere sowie die Lebenswelt sieht und in dem, wie man sich verhält. Das, was für eine Gesellschaft von Wert ist und das, worauf sie Wert legt, ist das, was sie ausmacht. Das was ihre moralischen Werte ausmacht und das, was in ihr als moralisches Handeln gilt, ist Ausdruck von ihr erreichter Zivilisation. Der Kanon, dem sie sich verpflichtet fühlt, dem, wonach es sich in ihr zu richten gilt, ist das, was ihr Bestand verleiht. Wer an dem, was eine Gesellschaft bietet, teilhaben will, muss sich dem angleichen, was sie ausmacht. Ihr nur angehören wollen bedeutet, an dem, was ihr von Wert ist, partizipieren, aber an seinem Erhalt nicht unbedingt mitwirken zu wollen. Anders leben zu dürfen schließt nicht ein, es auch zu können, in der Lage zu sein, auch anders zu werden. Eine Gesellschaft, die ihres Bestands wegen meint, andere zu brauchen, muss wissen, was es erfordert aus den Anderen Dazugehörige zu machen. Sie muss die Grenzen des ihr Zumutbaren erkennen, dass, was ihren Bestand nicht noch schmälert, sondern ihn festigt.